Wenn man am Pfingstwochenende nach Leipzig fährt, ist es, als würde man in andere Welt eintauchen. In eine Welt, die von der Farbe schwarz dominiert wird, in der man niemanden kennen muss, um mit vielen Menschen etwas zu unternehmen und erleben, da sie einem vertraut oder zumindest bekannt erscheinen.
Eine Welt, in der man an jeder Ecke und auch in überfüllten Bahnen Gespräche führt, man etwas zu trinken oder zu essen angeboten bekommt, da man das Gefühl der Zugehörigkeit hat.
WGT, was sonst! Dieses einzigartige Festival, das ganz Leipzig für fünf Tage in schwarzem Glanz erstrahlen lässt.
Die letzten drei Jahre wurde wenig bis gar nicht gefeiert. Auch wenn im letzten Jahr die meisten Festivals, so auch das WGT, stattfanden, so waren viele noch zurückhaltend und die Besucherzahlen der großen und kleinen Festivals waren etwas verhalten.
Dieses Jahr jedoch gab es kein Halten mehr – Leipzig trug schwarz – mit Stolz und Würde.
30 Jahre WGT! Herzlichen Glückwunsch! Herzlichen Dank!
30 Jahre – eine lange Zeit. Eine Zeit, die viele Besucher des diesjährigen WGTs miterlebten und mitfeierten.
„Die Szene überaltert!“ „Es gibt kaum Nachwuchs!“ Diese Sätze liest und hört man sehr häufig in diesem Genre.
Das ist richtig, das Durchschnittsalter auf Festivals und Partys im Gothic-Bereich ist höher als in anderen Genres. Doch genau das macht es aus. Auf „unseren“ Festivals und Konzerten sind nicht nur die Akteure auf den Bühnen in die Jahre gekommen, wie man es auf anderen Konzerten vorfindet. Auch die Menschen vor der Bühne sind zumeist in einem Alter, in denen es sich andere lieber vor dem Fernseher bei Tierdokumentationen gemütlich machen.
Doch wir feiern auch dann noch, wenn wir mit dem Rollator zur Party müssen. Und es werden von Jahr zu Jahr mehr Rollatoren, so dass sich die Veranstalter mit der Barrierefreiheit befassen sollten.
Doch es gibt auch junge Menschen, die den Weg in die Szene finden. Diese finden es meist „cool“, was wir Älteren zu erzählen haben, dass wir noch immer feiern und haben keinerlei Berührungsängste. Im Gegenteil, es scheint ihnen Mut zu machen, dass man nie zu alt zum Feiern werden kann.
Die Jüngeren sind häufig von dem beeindruckt, was wir erlebten, dass sich einige noch an das erste WGT 1992 gut erinnern können. Sie machen uns gern Komplimente, sogar dass wir noch gar nicht so alt aussehen, dass wir all das erlebt haben können.
Es gab diesen Abend, den Freitag. Ich war im Westbad und genoss die Konzerte von Assemblage 23 und Suicide Commando und wurde, wie in einer Zeitschleife, mit deren Musik um 20 Jahre in die Vergangenheit katapultiert.
Es war eine tolle Zeit, damals Anfang der 2000er. Es gab tolle Musik, tolle Partys, tolle Konzert und selbstverständlich tolle Festivals. Eine Zeit, in der ich bereits in einigen Clubs aufgrund meines Alters darauf angesprochen worden wäre, ob ich zum Sterben hierher käme. Im Gothic-Genre war das noch nie ein Thema. Auch jetzt, 20 Jahre später, ist Alter kein Thema in der Szene.
Und auch damals sagten mir viele, dass ich wesentlich jünger aussehe. Sie meinten und meinen es wohl als Kompliment.
Damals – vor 20 Jahren – war ich wohl noch zu jung zu kontern.
Auch dieses Jahr an diesem WGT-Freitag bedankte ich mich zunächst brav für diese „Komplimente“, bis ich dem überdrüssig wurde. Es bracht aus mir heraus.
„Entschuldige bitte, ich finde es nett, dass du meinst, ich sähe jünger aus, aber…“
Wir alle wissen, alles, was vor einem „aber“ kommt, kann man getrost vergessen, die Message liegt in den Worten danach.
Ich möchte nicht jünger sein! Ich bin froh, dass ich so alt bin, wie ich bin. Wäre ich nicht so alt, hätte ich so vieles, was ich erlebte, entbehren müssen.
Ich hätte mich nicht kurz nach dem Mauerfall ins Auto setzen können und Richtung Osten fahren können, nur um mich zu überzeugen, dass ich tatsächlich ohne Visum in die DDR fahren kann, zuvor durfte ich nur über den Transit durch die DDR fahren oder Ost-Berlin besuchen.
Ich wäre niemals die „Transitstrecke“ bibbernd mit ständigem Blick auf den Tacho gefahren.
Und diese Nacht damals, als wir uns auf dem Transit verfuhren. Was hatte ich Panik, man würde uns nun verhaften.
Man hätte mir auch nicht fast das gesamte Auto auseinandergeschraubt, als ich Ost-Berlin besuchen wollte. Ich hätte nicht panisch jemandem unser DDR-Geld kurz vor der Grenze nach West-Berlin mit einem großzügigen Trinkgeld in DM in die Hand gedrückt.
Meine Kinder wären nicht erwachsen, ich hätte noch gar keine Kinder, sondern hätte das noch vor mir.
Ich hätte niemals Nick Cave auf kleinen Club-Konzerten in Kassel sehen können. Ich hätte nicht miterlebt, wie Depeche Mode zu einem Meilenstein der Szene und der Musikgeschichte wurde.
Ich hätte nicht miterleben können, wie die Szene entstand. Wie aus einer kleinen Szene eine Subkultur wurde, die bis heute besteht und deren Anhänger mit dieser Subkultur älter wurden.
Ich hätte nicht mitbekommen, dass Kassel ein Mekka der schwarzen Szene war. Dass Ingo in Kassel mit den legendärsten DM-Partys startete, die Publikum aus der gesamten Republik anzog, sogar anfangs, als die Partys noch Donnerstags stattfanden.
Ich hätte weder den Kunstbunker, noch das SPOT in Kassel erlebt und auch einige Clubs wie das PC69 in Bielefeld nie besuchen können. Ich wüsste nicht, was das Linientreu war.
Ich würde nicht absolut gerührt auf Konzerten stehen und eine Reise um 20 Jahre in die Vergangenheit zu machen.
Ich hätte verzichten müssen, auf so vieles!
Ich hätte Werner niemals kennengelernt. Werner, unser Fels in Kassel, der uns so vieles an Veranstaltungen und Konzerten ermöglichte.
Wenn ich heute jemandem erzähle, ich wollte nur zu einer Party und bin plötzlich auf einem nicht angekündigten Konzert gelandet, da Werner dachte, es sei vielleicht ganz cool eine Band auftreten zu lassen, können das viele der Jüngeren nicht glauben. Und sie beneiden mich um diese Erlebnisse, zu Recht.
Ich hätte viele wunderbare Menschen nicht kennenlernen dürfen. Ich hätte auch niemals mit Gabi Delgado sprechen können.
Ich hätte die Entwicklung vieler Bands nicht miterlebt. Ich wüsste nicht, dass Depeche Mode nach einem Support-Gig mit Fad Gadget ihren Plattenvertrag bekamen. Vielleicht wüsste ich nicht einmal, wer Fad Gadget war.
Ich könnte nicht in Erinnerungen schwelgen, darüber lachen, weinen, mich freuen oder wundern.
Ich wäre nicht ich. Ich wäre jemand anderes. Aber das will ich doch gar nicht!
Ich hätte nicht neulich am Telefon, als mir meine Freundin von dem alten Mann, der nun 60 sei, einwerfen können, sie solle mal etwas ruhiger sein, da auch ich in wenigen Wochen näher an der 6 als an der 5 sei.
Wenn man nicht alt werden möchte, bleibt einem nur, jung zu sterben. Das will man nicht.
Und ich feiere Ronan Harris, der erst vor wenigen Tagen, als er sich für die Glückwünsche zu seinem Geburtstag bedankte, schrieb, man solle stolz sein, dass man älter wird.
Überhaupt VNV Nation! Ich hätte nicht Anfang der 2000er erlebt, wie Ronan sich auf der Bühne über den Begriff „Weiberelectro“ echauffierte. Ich wüsste nicht einmal etwas mit dem Begriff „Weiberelectro“ anzufangen.
Ich wüsste auch nichts mit dem Begriff „Zillo Festival“ anzufangen. Ich würde nicht mit dem Kopf schütteln, wenn die M’era Luna Anhänger, ihr „Mera“ als das einzig wahre Festival deklarieren, ohne zu wissen, dass das „Mera“ nur so erfolgreich werden konnte, weil an gleicher Stelle von 1996 bis 1999 das Zillo-Festival stattfand.
Ich hätte 2001 nicht das grandiose Zillo-Festival in Losheim erleben können. Was für ein Festival, was für ein Gelände und was für ein großartiges Erlebnis zwischen den stinknormalen Dauercampern dort zu campen.
Auch hätte ich nicht erlebt, dass VNV Nation Co-Headliner des Zillo-Festivals war und hätte vor allem niemals zu „Solitary“ im strömenden Regen tanzen können.
Ich möchte nicht jünger sein. Ob ich jünger aussehe, interessiert mich nicht wirklich. Klar denke ich manchmal beim Blick in den Spiegel, dass ich alt geworden bin.
Aber ich war jung und faltenfrei. Ich hatte diese Zeit, in der ich sexy war. Ich finde es nicht dramatisch, plötzlich nicht mehr ständig angebaggert zu werden. Im Gegenteil, ich genieße diese Ruhe, die dennoch ab und an zerstört wird, indem ich angebaggert werde.
Ich genieße es, nicht mehr nur noch „Sexobjekt“ zu sein, sondern öfter ernst genommen zu werden.
Diese Falten tun nicht weh! Ich bin froh, recht gesund und vor allem sehr fit zu sein. Ich bin froh, dass ich in meinem Alter noch so viel erleben kann, da ich gesund und fit bin.
Und ich freue mich riesig, wenn ich mit Freunden in Erinnerungen schwelgen kann, die wir nicht erlebt hätten, wenn wir nicht so alt wären, wie wir sind.
Wir können dankbar sein, dass wir in einer Zeit leben, die es uns ermöglich so lange gesund und fit zu sein. Wir können dankbar sein, dass viele dieser Menschen die uns von Jugend an begleiteten noch leben. Wir können dankbar sein, dass wir den nachkommenden Generationen zeigen können, dass es keine Richtlinie gibt, ab wann man nicht mehr in den Club oder auf Festivals darf.
Und wir, die Älteren, können froh sein, dass wir damals nicht unseren Ausweis an der Kasse abgeben mussten, den wir um 0:00 Uhr hätten abholen und nach Hause hätten gehen müssen, es sei denn, wie hätten den „Muttizettel“ gehabt.
Wir können dankbar sein, dass wir 2020 bereits so viel erlebt hatten und nicht so viel entbehren mussten, wie all die jungen Menschen, die plötzlich nicht ihren 18. Geburtstag oder ihr Abi feiern konnten. Und so vieles, auf was diese Jugend während der Corona-Krise verzichten musste und nicht erleben konnte.
Ebenso können wir dankbar dafür sein, dass wir noch ohne permanente Überwachung weggehen konnten.
Was bin ich froh, dass es zu meiner Zeit keine Handys gab.
Mein Alter, meine Falten, die körperlichen Veränderungen machen mir nichts aus. Einzig meine grauen Haare, die kann ich nicht akzeptieren. Graue Haare lassen viele Menschen müde aussehen, nur wenige Menschen sehen mit grauen Haaren richtig gut aus.
Als ich in der Warteschlange zur Agra stand, um Front 242 zu sehen, stand eine Frau vor mir, deren Abgeklärtheit ich beinahe beneidete. Sie hatte wahnsinnig lange graue Haare, war ungeschminkt und dennoch wunderschön. Wunderschön durch ihre Art, ihr Wesen, ihre Erzählungen aber auch durch ihr freundliches, offenes, hübsches ungeschminktes Gesicht.
Dass ich ungeschminkt auf Partys gehe, kann ich mir nicht vorstellen. Obwohl die meisten Leute mich bereits ungeschminkt im Schlafi auf dem Campingplatz oder im Hotel sahen.
Schminken gehört bei mir zur Vorfreude auf die Party.
Ich bin ansonsten ein Gegner des Satzes „das haben wir schon immer so gemacht“, doch beim Schminken, ist genau das mein Motto: Das habe ich schon immer so gemacht.
Dabei ist es mir ziemlich egal, was andere davon halten, wie ich aussehe.
Gesundheit und glücklich sein steht bei mir im Vordergrund. Wobei ich auch die Dinge, die mich nicht glücklich machten, nicht missen möchte.
Ich habe zum Beispiel eine Beziehung oder Freundschaft noch nie als Zeitvergeudung angesehen, wenn ich mich von jemandem trennte, auch wenn die Zeit direkt vor der Trennung furchtbar war. Doch zuvor, als die Welt mit diesem Menschen noch in Ordnung war, hatte ich verdammt gute Zeiten mit diesem Menschen, die ich um keinen Preis missen möchte.
Ansonsten wäre ich mit diesen Menschen nicht befreundet oder zusammen gewesen.
Wir alle sind das Ergebnis unseres gelebten Lebens, da gehören Schicksalsschläge dazu.
Was mich in den letzten Jahren traurig machte, war das Versterben Angehöriger und Freunde, das hat leider zugenommen.
Doch auch bei den verstorbenen Angehörigen und Freunden bin ich dankbar, dass ich diese Zeit mit ihnen hatte. Und ich hätte sie nicht erleben können, wenn ich nicht so alt wäre, wie ich bin.
Ich hätte nicht diese Beziehungen leben können, die ich lebte.
Ich wäre nicht ich. Ich möchte niemand anderes sein. Mir geht es gut. Mir geht es gut mit den Falten, mir geht es gut damit, dass ich nicht mehr jung bin.
Ich war jung. Einmal jung gewesen zu sein reicht, reicht für ein ganzes Leben.
Und wenn ich in ein paar Jahren mit meinen lieben Freunden ein Rollatorrennen mit anschließender Kaffeepause mache, werden wir uns Geschichten erzählen. Wir werden in Erinnerungen schwelgen, wie man gemütlich im Zaun abhängen kann, man sich an den falschen Tisch setzte, den gesamten Zeltplatz unterhielt, warum der Torben zum „Tortenschmidt“ wurde, was eine „herzliche Beleidigung“ ist, wie man erstklassiges Hakle-Feucht für andere herstellt und wie schön es war, so vieles erlebt zu haben. Auch die peinlichen und traurigen Momente gehören dazu.
Lasst uns anstoßen darauf, dass mit jedem gelebten Jahr Erlebnisse hinzukamen und hinzukommen werden, dass wir leben, lasst uns auf das Leben anstoßen!