Willkommen im Leben

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In der schwarzen Szene geht es angeblich, ach, so romantisch zu. Wir sind die Elite, die noch echte Bücher besitzt und diese sogar liest.

Abends sitzen wir bei Kerzenschein mit unserem oder unserer Liebsten und genießen zu einem perfekten Dinner, selbstverständlich liebevoll und meisterhaft selbst bereitet, ein Gläschen vom edelsten Wein in einem stilvollen Kristallglas.

Die Einsamen unter uns sitzen bei Kerzenschein in ihrem schwarzen Ohrensessel, genießen ein Glas Wein, hören schwarzromantische Musik passend zu dem Buch, das sie lesen.

Und die Kreativen sitzen ebenfalls bei Kerzenschein, einem Glas Wein und schwarzromantischer Musik, jedoch nicht im schwarzen Ohrensessel, nein auf einem stilvollen antiken schwarzen Stuhl, am antiken schwarzen Schreibtisch und bringen mit Füllhalter oder Feder ihre neuesten Gedichte, Geschichten oder gar Romane zu Papier.

Am Arsch!

Was glaubt ihr denn, wo all die Posts herkommen, die von Leuten aus der Szene generiert werden?

Ich gehöre ja zu den sogenannten Kreativen der Szene und in diesem Moment sitze ich mit meinem Laptop auf dem Schoß, das Internet läuft selbstverständlich im Hintergrund, ich chatte nebenbei ein wenig und schreibe diesen Text, selbstverständlich mit Rechtschreibüberprüfung im Hintergrund.

Wenn ich den Text dann selbst mehrfach durchgelesen, ihn sprachlich noch ein wenig ausgefeilt habe und Wörter, die ich zu häufig nutzte ersetze, indem ich ein Synonymlexikon bemühe, geht der Text auch noch ins Lektorat.

Vorab ist die Idee zu dem Text im Team besprochen worden. Auch wenn ich sehr häufig die reinen Ideen habe, wobei es auch genügend Impulse aus dem Team gibt, so werden alle Ideen erst ausführlich besprochen. Eine Idee allein reicht nicht, der eigene Horizont muss stetig erweitert werden.

Ebenso weiß ich, dass trotz Rechtschreibprüfung und Synonymlexikon orthografische oder sprachliche Fehler vorkommen.

Im Hintergrund läuft auch keine schwarzromantische Musik. Diese höre ich wohl per se nicht, aber das ist eine andere Sache.

Es gibt gar sogenannte Kreative der Szene, die ihre Texte erst gar nicht wirklich selbst schreiben. Es gibt die angeblichen Dichter unter uns, die ein Reimlexikon bemühen, ohne den Sinn zu beachten!

Das ist leider kein Scherz. Wenn ihr mal wieder über ein besonders hochtrabendes Gedicht mit sehr vielen Fremdwörtern stoßt, macht euch die Mühe, ein Reimlexikon zu bemühen, ihr werdet sehen, es stimmt. Es klingt nicht nur in euren Köpfen komisch, oft ergeben diese Gedichte keinen Sinn, da es Wortaneinanderreihungen sind, die generiert wurden. Oft weiß selbst der Dichter nicht, was die Fremdworte bedeuten. Ihm ist wichtig, so viele Fremdworte wie möglich zu nutzen und am besten solche, die er sonst noch nie gehört hat.

Natürlich gibt es nicht nur solche Schreiberlinge unter uns, auch alle anderen Kreativen nutzen die moderne Technik. Egal, ob es die Musiker sind, diejenigen, die Textilien gestalten oder Fotografen.

Und wo präsentieren wir unsere Werke? Selbstverständlich im Internet, bevorzugt haben wir alle eine Präsenz in den sozialen Medien.

Die sozialen Medien! Sie sind Fluch und Segen zugleich. Vor allem seitdem Smartphones fast Usus geworden sind. Und ja, auch bei uns, den Anhängern der schwarzen Szene sind sie ebenso weit verbreitet, wie in der Gesellschaft generell.

Dieser Computer im Hosentaschenformat hat uns absolut im Griff!

Sie bieten uns alles! Außer Mails abrufen, im Internet surfen, chatten oder die sozialen Medien immer im Blick zu haben, kann man damit sogar telefonieren! Ich hörte gar, auch SMS seien möglich.

Wenn wir uns in den sozialen Medien umschauen, scheint es, als hätten wir alle wahninnig viele Freunde. Wir wirken offen, weltgewandt, so als seien wir umringt von Menschen, die uns lieben.

In der Realität sieht es jedoch so aus, dass immer mehr Menschen, gerade aufgrund der sozialen Medien vereinsamen, denn der reale Kontakt mit Menschen findet fast ausschließlich auf der Arbeit oder beim Feiern statt. Wirklich mal einfach mit Freunden einen Abend fernab der sozialen Medien zu verbringen, ist uns fast fremd geworden. Selbst wenn wir einen Abend mit Freunden verbringen, haben wir unser omnipräsentes Smartphone dabei.

Wenn ich mein Profil anschaue, sage ich mir auch, dass ich wohl verdammt viele Freunde haben muss. Auch in meiner Chronik sieht es so aus, als würde ich mich mit sehr vielen Menschen austauschen.

Tatsächlich ist es so, dass ich rund ein Drittel der so genannten „Freunde“ noch nie gesehen habe, ein weiteres Drittel sind Zufallsbekanntschaften, die sich nie vertieften. Das letzte Drittel kann ich nun wieder aufteilen, es sind zwar Menschen, mit denen ich regelmäßig Kontakt hatte oder habe, doch auch hier sind es gerade mal 20%, die ich als Freunde oder Familie bezeichnen würde. Der Rest sind ehemalige Kollegen, derzeitige Kollegen, Leute, die man beim Feiern trifft, Leute, mit denen man das Hobby teilt etc.

Und nein, das ist keine Verurteilung. Selbstverständlich freue ich mich über jeden Menschen, mit dem ich irgendwie in Kontakt stehe. Diejenigen, die ich nicht leiden kann kommen mir generell nicht in meine „Freundesliste“.

Das ist übrigens das Wort, über das ich am meisten lache: „Freundesliste“! XY hat 543 Freunde! Kein Mensch hat 543 Freunde, echte Freunde sind eine Rarität und sind es wert, als solche gesehen zu werden.

Diese 20%, meine wahren Freunde, bzw. meine Familie, sind die einzigen Menschen, die mich in der Tat interessieren, die ich nach ihrem Befinden frage, in deren Gegenwart ich es auch ohne Smartphone aushalte und mit denen ich mich gezielt verabrede. Ein „bist du auch da oder da“, ist für mich keine Verabredung, eher die Frage, ob man jemanden hat, mit dem man sich vielleicht unterhalten könnte, oder den man gern mal wieder sehen würde, der einem eine gezielte Verabredung aber nicht wirklich wert ist.

Ich schätze, diesen Text hätte ich besser anonym veröffentlichen sollen, denn spätestens jetzt wissen viele Leute, dass sie mich nicht wirklich interessieren.

Na und? Interessiert ihr, die ihr in meiner „Freundesliste“ seid, euch ernsthaft für meine Person?

Sorry, daran hege ich aus vielen Gründen Zweifel. Ich treffe euch nur eher zufällig auf Partys, auf denen wir selten wirklich nüchtern sind.

Deine pauschale Frage nach meinem Befinden, wenn sie denn überhaupt kommt, beantworte ich eh immer gleich, da ich weiß, dass es dich absolut nicht interessiert. Es mag sein, dass du meine Nummer hast, aber wann zur Hölle hast du mich das letzte Mal angerufen? Wann haben wir uns das letzte Mal zu zweit getroffen? Wann hast du mich das letzte Mal gefragt, ob wir etwas zusammen unternehmen wollen?

Und sorry, eine Frage im Internet in die Runde, man hätte gerade Zeit, ob „irgendwer“ Lust habe sich mit dir zu treffen zählt absolut nicht!

Was ist das überhaupt? Warum will sich jemand um des Treffens Willen mit jemandem treffen? Und warum um alles in der Welt hat man etwas vor und könnte sich dann noch nebenbei mit „irgendwem“ treffen?

Ich bin da generell raus, wenn ich etwas vorhabe, habe ich etwas vor.

Ich wundere mich fast noch mehr über diejenigen, die auf ein solches Posting auch noch ernsthaft antworten. Ich würde mich im Leben mit niemandem treffen, der einfach nur „irgendwen“ treffen will. Ich treffe mich nur mit Menschen, die sich mit mir treffen wollen.

Ich kann sogar ganz allein in einem Café sitzen, zur Not habe ich mein Smartphone dabei und kann mit Menschen kommunizieren, mit denen ich kommunizieren möchte und nicht mit „irgendwem“.

So ein pauschales Treffen hat man doch sonst fast immer bei Partys oder Festivals. Doch Menschen, die man tatsächlich treffen und mit ihnen etwas unternehmen möchte, sollten schon ein Exklusivdate haben. Man ist es sowohl ihnen als auch sich selbst schuldig.

OK, vielleicht braucht der eine oder andere neue Freunde. Möglicherweise sind die alten blöd oder langweilig geworden, vielleicht kamen auch einige abhanden.

Gut, könnte funktionieren.

Aber selbst in diesem Fall könnte man filtern, und diejenigen Menschen, die einen tatsächlich interessieren, direkt anschreiben.

Es könnte schon sein, dass man ein Nein kassiert. Aber kassieren wir nicht oft genug ein Nein? Schlimm ist es nicht und manchmal ist es nicht einmal persönlich gemeint. Oft hat die Person einfach keine Zeit. Das erfährt man allerdings nur im direkten Kontakt.

Noch irritierender finde ich Posts, in denen man ankündigt, in einer anderen Stadt zu sein und ob denn irgendwer Bock hätte sich zu treffen. Wie soll ich mir das bitte vorstellen?

Wenn ich in eine andere Stadt fahre, habe ich dort entweder zu tun, oder ich besuche jemanden. Bei Ersterem hat man vielleicht mal ein kleines Zeitfenster, aber ob das wirklich für eine Verabredung reicht?

Bei Letzterem fände ich es gar unhöflich, mich nebenbei noch mit anderen zu verabreden, da die Zeit eines Besuches immer viel zu knapp bemessen ist. Sicher ist es machbar, dass man sich auf einer Party mit mehreren Leuten gleichzeitig verabredet, aber der Rest der Zeit ist für mich absolut tabu.

Manchmal hat man natürlich das Glück, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden und man kann eine Geschäftsreise verlängern, um Freunde zu besuchen. Das ist in der Tat etwas wirklich Feines. Alles andere kann in puren Stress ausarten.

Ja, ich bekenne mich schuldig, auch ich habe mein Smartphone immer dabei und sehr häufig in der Hand. Oft kommuniziere ich sogar darüber, wenn ich unterwegs bin und Menschen treffe. Doch das hat nur zwei Hintergründe: entweder ist es in der Tat wichtig, da bestimmte Dinge noch besprochen werden müssen oder aber ich recherchiere noch etwas, was gerade für diese Zeit wichtig ist. Ja, das gibt es tatsächlich, es ist genau für diese Verabredung oder diesen Event wichtig.

Gerade auf einem Festival kann man so in Kontakt bleiben, um sich wieder zu treffen. Es kann auch sein, dass man noch kurzfristig Leuten den Treffpunkt mitteilen muss.

Dennoch weiß ich, dass es unhöflich ist, die ganze Zeit nur das Smartphone in der Hand zu haben und somit der Unterhaltung nicht wirklich zu folgen. Kaum etwas

kann mehr Desinteresse bekunden.

Wenn ich zu einem Festival oder in irgendeine Stadt fahre und dies posten sollte mit dem Hinweis, ob jemand eine Mitfahrgelegenheit benötigt, meine ich ausschließlich das. Ich benötige keine Gesellschaft, schließlich bin ich verabredet. Sollte mir die Gesellschaft von jemandem tatsächlich wichtig sein, schreibe ich denjenigen direkt an.

Jemanden direkt anzuschreiben tut weder weh, noch ist es schwieriger, als einen Post abzusetzen und möglicherweise trifft man dann genau die Menschen, die man treffen möchte. Ich kann es nicht wirklich glauben, dass man auf jeden, der sich in der Freundesliste tummelt, Bock hat. Und ganz ehrlich, Leute, auf die man keinen Bock hat, trifft man eh viel zu häufig.

Andererseits trifft man die Menschen, die man gerne trifft viel zu selten. Wir alle haben viel um die Ohren und wenig Zeit. Genau aus diesem Grund sind wir es denjenigen, die uns am Herzen liegen, schuldig, sich gezielt mit ihnen zu verabreden. Zumal bei diesen Treffen die Smartphones meist in der Tasche bleiben, da das Gegenüber wesentlich interessanter ist, als die sozialen Medien.

Und eine mediale Diät sollten wir alle mal machen.

Fotos by AS

Vielen Dank an meine Models

astrid